Samstag, 21. Januar 2012

Nebenwirkungen

Die Nebenwirkungen allopathischer Medikamente sind ein großes Tabuthema unserer Gesellschaft. Jede Arznei enthält zwar einen Beipackzettel, dem neben Indikation und Dosierung ein Katalog von Nebenwirkungen beigefügt ist. Um sich aber in diesem Gestrüpp meist lateinischer Krankheitsnamen zurechtzufinden, müsste der Kranke zu jedem Begriff das Lexikon befragen. Unterzieht er sich tatsächlich dieser Mühe, gerät er in Panik und löchert seinen Arzt bei der nächsten Konsultation mit vielen Fragen. Dieser kann sie ihm aber aus Zeitmangel nicht beantworten und beschwichtigt ihn mit Verharmlosungen. Wahrscheinlich sind diejenigen Patienten am unkompliziertesten, die den Beipackzettel ungelesen wegwerfen und ihren primären Krankheiten nicht auch noch die Suggestion möglicher Nebenbeschwerden aufpfropfen. Außerdem gibt ihnen die Erfahrung recht: viele Nebenwirkungen stellen sich erst nach langer Einnahme ein, viele werden nicht als solche erkannt, eher als das Auftreten neuer Beschwerden gedeutet, zudem verträgt der menschliche Körper in seiner Robustheit eine Menge Gift. - In unserer Zeit eröffnen die Fortschritte der Chemie völlig neue Perspektiven, der Mensch wird zum Schöpfer einer künstlichen Welt. Er entfernt sich weitgehend von den herkömmlichen natürlichen Baustoffen, Textilien und Farben. Er ersetzt Metall, Holz und Glas durch Plastik; Wolle, Baumwolle und Seide durch Kunstfasern. Es gelingt ihm sogar, eine Reihe von Nahrungsmitteln im Labor genießbar und magenverträglich zu synthetisieren. Von hier ist nur ein kleiner Schritt zur synthetischen Medizin, der weitestmöglichen Loslösung von Vorgaben der Natur und der Schaffung von Neuem, das wie ein Autotyp oder eine Stanzmaschine den Bedürfnissen der Verbraucher entspricht. Die Erfinder dieser Arzneien sind nicht mehr durch erfahrungsheilkundliche Vorgaben eingeengt. Sie sind Architekten, die ein Haus nach den Wünschen des Auftragsgebers entwerfen, Konstrukteure, die einen Auftrag der Industrie ausführen und einen riesigen Markt bedienen, die Krankheiten der ganzen Welt. Es ist auch eine Geschichte ständigen Fortschritts, immer neue Substanzen entquellen den Labors, es wimmelt von Phosphamiden, Anthralinen, Clonidinen, Estriolen und ihren Derivaten. - Dennoch muss sich die Chemo-Medizin bei allen spektakulären Erfolgen fragen lassen, ob sie tatsächlich Heilung erreicht und nicht nur Symptomunterdrückung. Ob das Totschlagen von Erregern und das Erzwingen einer raschen Beschwerdefreiheit nicht teuer erkauft wird durch Verschleppung in die Chronizität und das Verdrängen des Krankheitsgeschehens auf andere, noch gesunde Organe.

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