Sonntag, 15. Januar 2012
Das Profil der Ärzte
Der Arzt begleitet seine ihm anvertrauten Mimenschen vom Kreißsaal bis zum Sterbebett. Er ist Geburtshelfer und stellt dereinst den Totenschein aus. Ärzte beurteilen die Arbeitsunfähigkeit ihrer Patienten und ordnen die Überweisung in ein Krankenhaus an, wenn sie Spezialuntersuchungen oder eine Operation für nötig erachten. Ärzte schneiden gefährliche Wucherungen heraus oder bestrahlen sie, ersetzen verbrauchte Organe und Gelenke, bekämpfen ausufernde Infekte und stillen unerträgliche Schmerzen. Sie straffen welke Haut und saugen überflüssiges Körperfett ab. Bei Unfällen sind sie die sofortigen Nothelfer, sie retten Leben, das sich ohne ihre Hilfe verbluten würde. - Das komplizierte und kostenintensive System der allgemeinen Krankenversicherung bringt es mit sich, dass der Arzt für seine einzelnen Leistungen relativ dürftige Vergütungen von den Kassen bekommt. Bei einer einigermaßen aufwendigen Praxiseinrichtung und bei mehreren Hilfskräften kommt er kaum über die Runden, es sei denn, er kann sich bei einem großen Anteil von Privatversicherten schadlos halten. Das System zwingt ihn, möglichst viele Kassenpatienten anzunehmen, so dass der Anblick überfüllter Wartezimmer wohl für lange Zeit noch das Horrorbild der Hilfesuchenden bleiben wird. Die Folge ist, dass pro Patient nur kurze Zeit zur Verfügung steht, die nicht für eine ausführliche Befragung oder ein Gespräch ausreicht. Wahrscheinlich sind Äußerungen des Kranken auch überflüssig, denn der Arzt besitzt schon durch die Blutuntersuchung und seine sonstigen zur höchsten Perfektion entwickelten Diagnosemethoden so viele aussagekräftige Krankheitsdaten, dass ihm die Schilderung subjektiver Empfindungen nur kostbare Zeit raubt. Der therapeutische Ansatz ist ohnehin vorgegeben: Fallen irgendwelche Messwerte oder sonstigen Untersuchungsergebnisse aus dem Rahmen der "Normalität", muss der Kranke wieder in diese Normalität zurückgeführt werden. Dazu sind Medikamente nötig. Auch hier sind dem Arzt die Hände gebunden, er muss sich auf verschreibungspflichtige, preisgünstige Generika beschränken und er darf eine festgesetzte Summe pro Quartal nicht überschreiten, sonst zahlt er drauf. - Am schlimmsten wirkt sich dieser Mangel an Aufmerksamkeit und Zeit im klinischen Betrieb aus. Der Kranke wird zwar ständig von einem Heer von Weißmänteln umschwirrt, von Stationsärzten, Oberärzten, Ärzten im Praktikum, Medizinstudenten, Krankenschwestern, Lernschwestern, Pflegern, Physiotherapeuten, Masseuren und medizinischen Bademeistern, aber keiner hat Zeit für ihn. Er gewinnt den Eindruck, sie alle rennen den ganzen Tag herum, entledigen sich rasch ihrer Pflichten, sind aber ständig von der Angst geplagt, durch den Extrawunsch eines Kranken oder durch eine Frage in ihrer Hektik gestört zu werden. - Dennoch wird Heilung nur dort geschehen, wo sich in einem weißen Mantel eine Persönlichkeit verbirgt, die von Zuwendung und Heilungswillen erfüllt ist.
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